Moni und Roli Langzeit-Reisen

Santiago de Chile

[von Roli]

Chilenische Geschichte

Klicken vergrössert das Bild1818 gelang die Unabhängigkeit von Spanien. Im 19. und 20. Jahrhundert regierten diverse, teils diktatorische Staatsoberhäupter. 1970 wurde Salvador Allende Gossens als Kandidat einer Volksfrontkoalition zum Präsidenten gewählt. Er versuchte, ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm durchzusetzen. Die daraus erwachsene innenpolitische Krise verschärfte sich durch terroristische Aktionen rechts- und linksradikaler Gruppen. Am 11. September 1973 wurde Allende gestürzt (er kam dabei um). Eine Militärjunta unter Augusto Pinochet Ugarte (seit 1974 Präsident) errichtete eine harte Militärdiktatur.
Seit Mitte der 1980er-Jahre gelang es der Oppositionsbewegung eine wachsende Zahl von Menschen gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen zu mobilisieren, sodass sich die Regierung zur Einleitung eines Reformprozesses gezwungen sah und 1987 die Bildung von Parteien legalisierte. 1989 wurde Patricio Aylwin Azócar als Kandidat eines 17 Parteien umfassenden Wahlbündnisses zum neuen Präsidenten gewählt. Mit seinem Amtsantritt endete die Militärdiktatur Pinochets, der jedoch als Oberbefehlshaber des Heeres sowie als Mitglied des Senates und des Nationalen Sicherheitsrates noch große Macht behielt. 1993 begann allmählich die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur; doch zeigten die Auseinandersetzungen um die Verhaftung Pinochets in Großbritannien (1998) die tiefen Widersprüche in der chilenischen Gesellschaft. Während der Präsidentschaft des konservativen Eduardo Frei Ruiz-Tagle stabilisierte sich die Wirtschaft weiter. Erst in der Abwesenheit Pinochets getrauten sich hohe Politiker die Wahrheit über die vergangenen Jahre auszusprechen. Mit Ricardo Lagos Escobar gewann erstmals seit Allende wieder ein sozialistisch orientierter Politiker die Präsidentschaftswahlen 2000. Im Dezember 2005 finden die nächsten Wahlen statt. Unter den Kandidaten befindet sich auch eine Frau.

Ankunft in Santiago

Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das BildIn Chile einzureisen ist zero problema. Die Zollbeamten haben zwar Kameras, aber damit knipsen sie wahrscheinlich nur die US-Bürger ab, nicht uns. Sie wollen weder Fingerabdrücke, noch stellen sie doofe Fragen. Wir sind einfach willkommen. Zum ersten Mal auf unserer Reise werden wir am Flughafen erwartet. Ein Chileno winkt mit einem Schild auf dem fehlerfrei unsere Namen stehen. Ein Taxi bringt uns zu Boris und Lidia. In ihrem alten, einfachen Haus dürfen wir die nächsten vier Wochen logieren. Die Leidenschaft für Haustiere teilen sie mit vielen anderen Chilenen. Im Hinterhof tummeln sich fünf Hunde. Die Katzen haben wir nicht gezählt. Auch wenn nicht mehr alle Scheiben ganz, die Wände nicht mehr weiss und da und dort etwas Farbe abbröckelt, ist Hightech kein Fremdwort. Wir dürfen unser Notebook mit dem bereitliegenden Kabel ans DSL-Netzwerk stöpseln.
Boris und Lidia arbeiten beide als Lehrer in der Sprachschule, die wir in den nächsten vier Wochen besuchen. Boris spricht zum Glück ein bisschen englisch und erklärt uns die rudimentären Hausregeln. Spanisch ist für uns am ersten Tag noch schwer verständlich.
Während Boris und Lidia zur Schule müssen, wagen wir uns auf die Strasse. Wir gehen Einkaufen. Am Eingang des Supermarkts werden unsere Rucksäcke mit Klebeband versiegelt, damit wir ja nichts klauen können. Zwischen den Regalen patrouillieren mehrere Sicherheitsleute. Trotzdem öffnen wir das Klebesiegel an Monis Rucksack, der Einkaufszettel liegt nämlich noch drin. An der Kasse interessiert das dann aber keiner mehr.
Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das BildAm nächsten Morgen statten wir der Schule einen Besuch ab. Nette Leute, Schüler wie Lehrer und einen gute Stimmung. So gefällt es uns und wir freuen uns auf Montag, wenn wir die Schule anfangen. Für den Rest des Tages schlendern wir durch den Stadtteil Providencia, besuchen das Tourismusbüro, kaufen ein paar Kleinigkeiten und geniessen ein Café. Wenn wir den Stadtplan in der Hand halten, bieten Einheimische Hilfe an. Das funktioniert sehr gut, auch ohne Spanisch. Die Verkäufer sind sehr hilfsbereit und haben Verständnis, wenn wir mehr mit den Händen sprechen als mit Worten. Obwohl die Strassen hektisch und laut sind und die Stadt in eine Smogwolke gehüllt ist, fühlen wir uns wohl in Santiago.
Im Starbucks-Café halten die Angestellten ihre tägliche Degustierrunde ab. Nein, nicht bloss "käfele". Die Chefin erklärt die Herkunft und den Charakter des Kaffees der Woche. Wir werden gleich miteinbezogen und eine Angestellte übersetzt jeden Satz auf Englisch. Selbstverständlich dürfen wir auch probieren. Wie beim Wein, wird zuerst am Kaffee geschnüffelt und erst dann getrunken. Jeder sollte jetzt einen Kommentar abgeben. Aber sie zögern und schauen mich an. Ich bin doch kein Kenner und rieche bloss einen Hauch von Schokolade, wahrscheinlich von meinen Fingern, ich habe vorher Schokoladentorte gegessen. Aber der Tipp war richtig und alle bezeichnen mich als Kaffee-Experten. Wow. Weil der Kaffee etwas bitter war, gibt es zum Ausgleich für jeden einen Brownie. Muchas Gracias. Solche Erlebnisse sind das Salz in der Reisesuppe.

Aber was wäre Salz ohne Pfeffer?

Eine Busfahrt kostet immer 350 Pesos (ca. 90 Rappen oder 60 Eurocent), egal wohin und wie weit man will. Wechselt man die Buslinie, muss man erneut zahlen. Es gibt keine Abos oder Vergünstigungen. Es gibt kein Fahrplan. Die Wartezeit ist im Schnitt 5 bis 10 Minuten. Will man einsteigen, muss man dem herannahenden Bus ein klares Zeichen geben. Die Busfahrer verdienen pro Fahrgast. Das sind die Regeln. Der Kampf um die Fahrgäste geht dann so:
Klicken vergrössert das BildAls wir zur Haltestelle kommen fährt uns gerade ein Bus vor der Nase weg, aber der nächste kommt schon wenige Sekunden später und wir steigen ein. Jetzt sind also zwei Busse der gleichen Linie sehr nah hintereinander. Das Rennen beginnt, der Fahrer gibt Vollgas. Die noch offenen Türen klappern und rattern in den schon 100-mal geschweissten Halterungen. Natürlich holen wir den vorderen Bus ein, weil der ja bei fast jeder Haltestelle stoppen und Leute mitnehmen muss. Eine Gelegenheit für unseren, den anderen zu überholen. Und ein bisschen Vorsprung muss er sich schon erarbeiten, sonst beginnt das Spiel ja dauernd von vorne. D.h. nur wegen ein oder zwei Personen am Strassenrand stoppt er gar nicht, obwohl diese klare Zeichen geben. Zwischendurch telefoniert er noch mit seinem Handy. (Gell Heinz, ihr dürft nicht mal dran denken, obwohl ihr ja gar kein Lenkrad habt bei der Bahn.) Die Engelsfigur am Schalthebel und das Jesusbild auf der Frontscheibe sorgen für die Sicherheit. Erst etwa bei der fünften Haltstelle stoppt er, hier warten nämlich acht Personen, also lohnt es sich. Kaum hat der Letzte seinen Fuss auf dem Trittbrett, geht das Rennen weiter. Einkassiert wird während der Fahrt. Mit Höchstgeschwindigkeit poltert der Bus weiter über Bodenwellen und Löcher. Wer sitzt kriegt Rücken-, wer steht Kopfschmerzen. Wir sind jetzt dem Stadt-Zentrum nah und der Fahrer möchte natürlich auf dem Rückweg möglichst viele Passagiere stadtauswärts chauffieren. Also bloss keine Zeit verlieren, der hintere Bus zeigt sich nämlich schon wieder im Rückspiegel, wenn der überholt, bleibt die Kasse leer. Jede Kurve wird absolut optimal gefahren, das heisst der Bus kippt gerade nicht. Piep, jetzt will einer Aussteigen. Liegt nicht drin, keine Zeit. Nach ein paar hundert Metern nochmals Piep, aber der Fahrer hält nicht an. Nun poltert der Fahrgast ungeduldig an die Tür. Na also, wenn es unbedingt sein muss, Tür auf und die Bremse kurz antippen, mitten auf einer Kreuzung notabene. Der Gast springt aus dem fahrenden Bus. Und wieder Vollgas. Glück gehabt, der hintere Bus konnte nicht überholen. Im Zentrum angekommen, hält der Bus auf der linken Spur an statt rechts an der Haltestelle. So blockiert er dem Hinteren erneut die Überholmöglichkeit. Wir steigen aus, achten darauf, nicht von einem rechts überholenden Taxi überfahren zu werden, retten uns aufs Trottoir und sind froh, heil am Ziel zu sein.
Es gibt immer wieder Unfälle mit diesen Stadtbussen, genannt "los micros". Nicht nur wegen der Geschwindigkeit, sondern auch wegen dem schlechten mechanischen Zustand der Busse. Kürzlich sollen zwei Passanten ums Leben gekommen sein, weil sie von wegfliegenden Rädern getroffen wurden. Genug der Horrorstorys. Die Regierung versucht mit einem staatlichen System und neuen Bussen die Lage zu entschärfen. Dieser Tage sieht man schon die ersten neuen "Micros" in der Stadt herumkurven und glücklicherweise fährt auch auf unserer täglichen Route schon ein neuer Bus. Sie sind auf 60 km/h begrenzt und die Fahrer dürfen nicht mehr mit offenen Türen fahren. Ausserdem bekommen die Fahrer einen fixen Lohn, das heisst, sie müssen nicht mehr um die Kunden rennen fahren.
Klicken vergrössert das Bild Wenn wir nur von den alten Micros erzählen würden, entstünde ein verzerrtes Bild des öffentlichen Verkehrs. Santiago besitzt z.B. auch U-Bahnen die dem gleichen Standard entsprechen wie in anderen gut entwickelten Städten dieser Welt. Ausserdem gibt es für Überlandfahrten private Busunternehmen mit sehr bequemen Bussen.

La escuela de idiomas Bellavista

Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das BildWeil wir in America del sur nicht wie taubstumme Hühner herumreisen wollen, eignen wir uns ein paar spanische Worte an. Die Schule haben wir übers Internet gefunden und die Buchung klappte problemlos per Email.
Jeden Montag beginnen neue Spanisch-Klassen. Jeder Schüler wird dann seinem Wissen entsprechend neu eingeteilt. Wir gehören natürlich zu den blutigen Anfängern. Der Unterricht ist interessant gestaltet. Eine Klasse besteht aus maximal sechs Schülern und immer abwechselnden Lehrern. So gewöhnt man sich nicht an die Sprach-Gepflogenheiten eines Einzelnen. Ab und zu findet der Unterricht auch draussen auf der Strasse statt. Die vorbeidröhnenden Autos und Lastwagen erhöhen den Schwierigkeitsgrad auf den real-live Level. Die kleine Schule "escuela de idiomas Bellavista" (www.escuelabellavista.cl) können wir empfehlen, denn sie macht uns einen professionellen und gut organisierten Eindruck.

Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Klicken vergrössert das Bild Am Wochenende machen wir einen Biker-Ausflug ins Tal Cajon del Maipo. Die Tour ist zwar nicht der Hammer, weil wir sechs Stunden mit Warten verbringen für zwei Stunden Velofahren (chilenische Organisation). Aber immerhin kommen wir für ein paar Stunden aus der versmogten Stadt und geniessen den Blick auf verschneite Berge.

Sightseeing in Santiago

Natürlich machen wir in Santiago auch Sightseeing, wir sind jetzt zwar Studenten, aber immer noch Touristen. Alles haben wir in Santiago noch nicht gesehen, aber das muss auch nicht zwingend sein. Reisen ist Freiheit. So geniessen wir z.B. auch die Zeit im sauberen und modernen Starbucks-Café, wo wir in aller Ruhe unsere Hausaufgaben bei einem Frappucchino und einem Stück selva-negra-Torte (Schwarzwälder) erledigen.

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Mit diesen Bildern schliessen wir den aktuellen Reisebericht ab. Bis jetzt haben wir nur diese eine Stadt Südamerikas gesehen. Die Reise geht jetzt erst richtig los. Ab dem 12. November machen wir uns schon mal auf den Weg an die Küste. Freut euch auf den nächsten Reisebericht!

Noch eine kleine Zugabe gefällig?

Sei es im Café, auf der Strasse bei der Suche nach irgendwas oder in der Schule. Überall begegnen wir der Fröhlichkeit und Offenheit der Chilenen. Z.B. in der Schule scheint es den Lehrern richtig Spass zu machen. Sie lachen fast immer und sind für Witzchen und Spässchen aufgelegt. Oder auf der Heimfahrt im Colectivo (Sammeltaxi mit fester Route) haben wir mit dem Fahrer Claudio Bekanntschaft gemacht. Er hat uns sogar direkt vor die Haustüre gefahren. Er gehe jetzt sowieso gleich essen, da käme es ja nicht drauf an, wenn er von der Route abweiche, sagte er.

Boris spielt uns Musik von chilenischen Gruppen ab. Die Covers sehen zwar aus wie bei uns in den 60er Jahren, aber die Musik geht unter die Haut wie sonst nichts. Mehrere Gruppen mussten ins Ausland flüchten während der Zeit Pinochets. Das Volk konnte nicht die Musik hören, die es wollte. Wenn heute Konzerte stattfinden von solchen Gruppen (die nach Pinochet wieder nach Chile zurück kamen), dann sind nicht nur junge Leute im Publikum, nein auch viele, die diese Zeit miterlebt haben sind da und es entsteht eine grosse Gemeinschaft. Die Gruppen singen natürlich vom Volk, von der Unterdrückung und von ihren Gefühlen. Man sehe auch viele Leute weinen an Konzerten, erzählt uns Boris. Die Geschichte hat sich in ihre Herzen gebrannt.

Wer sich für die Musik interessiert: Inti Illimani ist eine solche Musikgruppe und Mercedes Sosa eine Sängerin, die sogar einmal während eines Konzertes abgeführt wurde weil die Regierung fand, die Texte seien nicht gut fürs Volk. Wie so oft, hat eine solche Aktion das Gegenteil ausgelöst. Mercedes Sosa ist heute die Sängerin, auch in anderen Ländern Südamerikas. Sie gab auch schon Konzerte in Europa.

So, jetzt ist aber wirklich Schluss.